Aaaaaah, ich liebe es, auf andere angewiesen zu sein und die Kontrolle mal vollkommen abzugeben. Ist doch wunderbar, wenn man so keinen Einfluss mehr auf die Umstände hat. Wer liebt das nicht? Ich finde das sooo toll, dass ich vor lauter Begeisterung kotzen könnte. Und so ist es, wenn man mit der Bahn fährt. Wie hieß der Slogan vor ein paar Jahren: „Mit den Besten ist man immer am strengsten“ oder so was in der Art. Wenn ich an Peru denke, wo Busse vollkommen überfüllt waren, Flugzeuge nach Gutdünken starteten oder Touren ohne Angabe von Gründen mal so gar nicht stattfanden, dann, ja dann würde die Bahn locker das pünktlichste, sauberste und freundlichste Fortbewegungsmittel sein. Komischerweise sind wir aber nicht in Südamerika. Ich mag ausgeprägte Defizite in der Orientierung haben und auch geographisch ein Vollhorst sein, aber selbst ich habe verstanden, wie weit diese Länder auseinanderliegen. Also zählen südamerikanische Vorkommnisse in der Beförderungsbranche nicht im Vergleich mit unserer Bahn.
Gestern durfte ich die Bahn schon nutzen. Morgens gab es fünf Minuten Verspätung. Das fand ich toll. Das gilt für mich noch als pünktlich. Zurück von Düsseldorf sah es schon anders aus. Mein Zug um 15:39 Uhr fuhr plötzlich mit fünf Minuten Verspätung von einem anderen Gleis ab. An diesem Gleis angekommen, gab es diese Verbindung auf einmal nicht mehr. Sie hatten diesen Zug einfach kommentarlos gestrichen und die nächste Verbindung – zugegeben sehr kurz darauffolgend – angezeigt. Ich weiß nicht einmal, ob das allen aufgefallen ist. Nun also Gleis neun. Aus fünf Minuten wurden zehn, was nur an so einem Ticker stand. Was machen Analphabeten oder Blinde in solchen Momenten? Dann wurde das Gleis wieder geändert – zum Glück nur auf das gegenüberliegende, aber es war dennoch für manch einen ein Chaos.
Nun dachte ich, meine Portion Chaos der deutschen Bahn schon verabreicht bekommen zu haben. Morgen und übermorgen würde das somit alles tippitoppi laufen. Was soll ich sagen? Der nächste Tag ist viel schöner. Der Zug kommt pünktlich, ich bin glücklich, die Welt ist schön, bis…ja, richtig, bis der Zug mitten im Nirgendwo nach ca. 20 Minuten Fahrzeit stehen bleibt. Irgendwann kommt dann eine Durchsage. Ein Triebwerksschaden. Da denke ich noch: „Besser hier als im Flieger, gell?“ Nach einer Weile hört man dann den netten Schaffner, den vorher keiner zu Gesicht bekommen hat: „Muss isch drücken den Knopf?“ Ich bin mir recht sicher, der arme Kerl hatte so viel Ahnung von Zügen und der darin befindlichen Technik wie ich. Das klingt so wie eine telefonische Anleitung meines Vaters, wenn bei mir irgendwas nicht läuft. Und dann meldet sich plötzlich der Lokführer. Ja, das sei ein schwerer Triebwerksschaden. Wie es weitergehe? Jo, wenn er es erfahre, teile er es uns mit. Ich muss ja nur zu einem Workshop „Das Vorstellungsgespräch“. Gottseidank ist es kein echtes bei einem potenziellen Arbeitgeber. Zum Schluss sagt der Lokführer dann noch mal lapidar: „Ich melde mich beizeiten.“ Das bringt ihm ungemein Sympathien ein. Als er sich das nächste Mal meldet, klärt er uns auf, wir würden nun rückwärts geschoben, um den letzten Bahnhof anzusteuern. Ich denke spontan an Geisterfahrer auf der Autobahn. Gibt es so was auch im Schienenverkehr? Wir sollen dann doch den Zug auf dem anderen Gleis nehmen, der in Kürze eintreffe. Mache ich dann auch. Doof nur: Der fährt nicht nach Düsseldorf. Wird das erwähnt? Aber nicht doch! Wie langweilig wäre das denn?! Ich frage aber einfach mal ein Mädel, was schon in diesem Zug saß. Nö. Der fährt über Leverkusen, aber nicht über Düsseldorf. Aaaaaaah! Ich steige in Mönchengladbach aus und renne los. Irgendwann gibt es nämlich ein klitzekleines Zeitfenster, in dem es zu einem kurzen Netzempfang im Zug kam, so dass ich Verbindungen raussuchen kann. Wir spielen mit mehreren Leuten Forrest Gump, um die S-Bahn nach Düsseldorf zu erreichen. Und die hält nun an jeder verdammten Haltestelle. Ich werde über eine Stunde später beim Workshop ankommen. Ich bin wütend. Bei den Bahnpreisen wäre ein geregeltes Ankommen im zeitlich kalkulierten Rahmen doch wohl nicht zu viel verlangt, oder? Scheinbar doch.
Und dann betritt eine komplette vierte Schulklasse die S-Bahn. Die machen einen ähnlichen Ausflug wie ich mit meiner damaligen Klasse damals: Es geht nach Wuppertal. Cenk (gesprochen „Dschängk“) berichtet mir regelmäßig, er habe doch nicht gefrühstückt und müsse ganz unbedingt was essen, aber seine Lehrerin verbiete es ihm während der Zugfahrt. Er ist sehr gut im Futter mit seinen dicken Pausbacken und verführt einen fast dazu, ihn in selbige zu kneifen. Ich weiß nicht, wie oft er das mit dem Frühstück erwähnt. Er scheint ein Trauma davonzutragen. Cenk erzählt mir, Türke zu sein, ein iPhone und ein LG zu besitzen, eine Playstation vier usw. Äääh…Dann hätte er ja schon alles und könne sich über nix mehr freuen? Doch, wenn die PS5 rauskäme…oder neue Spiele. Oder über Essen, darüber freue er sich immer. Ich finde ihn klasse. Leander, sein Kumpel, erklärt mir, er sei Serbe. Dabei sieht er aber wie ein Inder aus. Die Augen sind wunderschön…und erst seine Wimpern! Hammer. Ich sage ihm noch, er solle die Mädels nicht alle veräppeln, die hinter ihm her sein würden, wenn er älter wäre. „Warum sollten die hinter mir her sein?“ Cenk ist der Checker: „Die wollen Deine Augen haben!“ Oh je, hoffentlich hat Leander nun keine Albträume von Mädels, die ihm die Augen stehlen wollen. Joel sitzt mir schräg gegenüber. Mit ihm wäre ich früher befreundet gewesen: Blaue Augen, rot-blonde Haare und ein Gesicht voller Sommersprossen. Wo er ist, kann Blödsinn nicht weit weg sein. Er redet die ganze Zeit von Bäumen, denn das sei jetzt gerade Thema in seiner Gang. Klar. Er habe da einen Steakbaum, ob ich ein Steak wolle? Klar, aber nur, wenn er es Medium hinbekäme. Hey, kein Thema. Bei ihm wächst alles auf Bäumen. Ich frage: „Auch Eier?“ Nee, die doch nicht! Und dabei schaut er mich an, als sei ich debil. Die kämen doch von den Hühnern! Aber die, ja, diese Hühner, die wachsen auch am Baum. Herrlich, wenn einen schon so Kleine verarschen. Ein Mädel – ihren Namen weiß ich nicht – sagt zu mir: „Ich hab Angst vor der Schwebebahn.“ Ich tröste sie, wie toll das wäre, mal mit so einer Bahn zu fahren. Ich hätte das damals total genossen. Aber…wenn die denn abstürzen würde? Tut sie nicht. Eine Lehrerin hätte ihnen erzählt, das sei mal passiert. Pädagogisch wertvoll, oder? Ich kann sie beruhigen. Und dann erzählt sie mir von der Türkei, davon, wie viel ihr Vater rauche, was sie voll ekelig fände, und dass sie nach der Autofahrt immer duschen müsse, weil Papa zwar das Fenster beim Piefen öffnen würde, aber der Rauch dennoch hinten ankäme. Die halbe Stunde in der S-Bahn rast dahin, weil die Kinder mir allerhand erzählen. Doof sind nur die Erwachsenen drum herum, die die Augen verdrehen, weil Kinder ja sooo nerven. Ich hätte hingegen keine schönere Fahrt haben können und bin fast schon wieder mit der Bahn versöhnt. Als ich gehen will, sagt Cenk: „Nee, bitte gehen Sie noch nicht! Fahren Sie weiter mit uns!“ Das finde ich echt putzig, aber ich muss ja los zum Workshop, was ich ihm auch erkläre. „Na dann eben viel Spaß da, wo Sie jetzt hin müssen.“ Wieso meckern eigentlich so viele über die heutigen Kinder? Sie sind genau so, wie wir waren: Sie rangeln und raufen, sie kichern und quatschen Blödsinn und haben so unendlich viel Phantasie.
Mein Workshop ist dann zwar ganz nett, aber eindeutig phantasielos. Den üblichen Besserwisser, der alles kann und weiß, haben wir natürlich auch dabei. Und die schönste Überraschung? Der ist morgen als einziger aus dieser Runde auch bei meinem Workshop dabei. Mich zerreißt es schon innerlich vor Freude. Da würde ich lieber den ganzen Tag mit den 10-Jährigen abhängen als mit miesepetrigen Klugscheißern.

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