Fangen wir mal mit Fakten an: In Niederbayern gibt es eindeutig mehr Mücken. Und nein, wir haben gestern nicht draußen gesessen. Wie denn auch bei dem Regen? Trotzdem hat mich eine oder mehrere der Mistviecher angezapft. Ich hasse sie! Im Nacken habe ich einen Stich, am linken Bein gleich zwei nebeneinander. Ich hab als Kind ja schon einmal völlig verzweifelt meine Mutter gefragt, warum der liebe Gott Mücken erschaffen hätte. Gut, nachdem ich viele Folgen der Big Bang Theory gesehen habe, glaube ich Sheldon durchaus die Theorie mit dem Urknall, den kein Gott erwirkt hat. Aber der Kern der Frage ist nach wie vor unbeantwortet: Warum gibt’s diese Drecksviecher??? Gegen die können sie gleich auch einen Impfstoff entwickeln. Man man man… so kann ich nicht arbeiten.

Ich schlafe selig und wache mit Vorfreude auf. Ja, es ist auch durchaus Sorge dabei, weil ich so schlecht vorbereitet bin, aber ich freue mich eben auch. Das muss wirklich komisch für Außenstehende sein, doch ich mag es, mit den Inhaftierten arbeiten zu dürfen. Aber zunächst muss ich wieder die Hürde der Beamten nehmen. Und heute habe ich wieder mal Glück: Es sind zwei lustige Vögel dabei. Ich muss meinen Perso hinterlegen, aber trotzdem noch mal meine Anschrift, Telefonnummer, E-Mail-Adresse usw. angeben. Auf Nachfrage tut’s dann aber auch nur meine Mobilfunknummer. Ich grinse ihn an und frage: „Und dann rufen Sie mich an?!“ Er grinst zurück und sagt: „Wenn Sie des wolln, daat i’s scho mochn.“ Da rückt der Zweite näher mit dem Fieberscanner und ergänzt: „Un ätzat spualn ma Doktorspiele.“ Ääääh… nö. Aber lustig sind sie eben schon. Nur der, der mich dann abholt und zur Arbeit begleitet, ist wieder so ein Spaß-Befreiter. Und noch schlimmer: Er ist die Entdeckung der Langsamkeit. Ich könnte hier niemals fest arbeiten. Da würde ich an Ungeduld sterben. Ja doch, ich weiß, dass ich an der arbeiten muss. Irgendwann mal, versprochen.

Ich pfeife mir im Schweinsgalopp einen Kaffee rein und starte auch schon. Heute ist die Mischung nicht so bunt, wie beim letzten Mal. Eine Hälfte ist deutsch, einer ist Franzose, der Rest sind Russen. Verstehen können mich zum Glück alle. Es geht richtig harmonisch und locker zu. Eigenartigerweise ist das für mich genauso, als würde ich andere meiner Kollegen schulen. Heute reden wir sogar noch offener als mit dem Team vom letzten Mal. Ich habe ein interessiertes Publikum, das wirklich etwas lernen will, was ehrlich ungewöhnlich ist. Ich bin sofort wieder in meinem Element – die Aufregung war umsonst. Irgendwie ergibt es sich immer, dass es dann doch passt, wofür ich wirklich, wirklich dankbar bin.

In der Pause erfahre ich von Zweien, die bald raus dürfen – einer in zwei Wochen, der andere in 8 – 12 Wochen. Der Kollege, der in zwei Wochen raus darf, hat keine Angst davor – was einige durchaus schon haben. Sie werden zwar „vorbereitet“, indem sie stundenweise Freigang haben, was langsam gesteigert wird. Aber die Welt hat sich nach 30 Jahren doch sehr verändert… Und so lange sitzt er schon ein. Dass er nicht nur Kaugummis gestohlen hat, kann man sich vorstellen. Erst am Ende frage ich meinen Kollegen, was er gemacht hat, um so lange hier zu landen. Würde ich ihn wiedersehen, hätte ich das nie gefragt. Es ist schon gruselig, wozu Menschen imstande sind. Aber: Warum werden sie so? Ein Anderer verabschiedet sich am Ende, weil er beim nächsten Mal auch nicht mehr da sein wird. Ich wünsche ihm alles Gute für draußen, aber da klärt er mich auf: Er wird verlegt, weil er eine Intensivtherapie macht. Macht er sie nicht, kommt er nie wieder aus dem Gefängnis raus. Aber er hat Angst davor. Ein Jahr Intensivtherapie hat er schon einmal gemacht. Vier hat er nun vor sich und sagt, das sei die schlimmste Zeit für ihn gewesen. Er hätte sich seelisch nackt machen müssen, um dann aufarbeiten zu können. Puh. Er zittert leicht, als er mir davon berichtet. Also bestärke ich ihn und fordere ihn auf, es mal umgekehrt zu sehen: Er darf sich mit professioneller Hilfe seinen Dämonen stellen, wofür andere Leute viel Geld zahlen müssten. Er grinst verlegen und sagt: „Ich weiß, das ist meine Chance… aber ich hab echt richtig Schiss davor.“ Kann ich verstehen. Ich würde ihn zu gern umarmen, was nicht nur aufgrund von Corona verboten ist. Von ihm bekomme ich ein tolles Kompliment: „Man merkt Ihnen die Begeisterung an, uns was beibringen zu wollen. Schade, dass wir uns nicht noch mal sehen.“ Ja, das bedauere ich auch und wünsche ihm, dass sein Weg nicht zu schmerzvoll sein wird.

Ich gehöre schon auch zu den Menschen, die sagen, dass für Täter mehr getan wird als für die Opfer. Aber unterm Strich sind beide Seiten Opfer, und wir müssten für beide mehr tun. Niemand kommt als Monster zur Welt. Ob derjenige, der 30 Jahre gesessen hat, draußen überhaupt zurechtkommen wird, ist fraglich. Er wirkt nicht so reflektiert. Er wirkt eher verbittert, was ich schon auch verstehen kann. Was ist schon schwarz-weiß? Wenn es nur so einfach wäre. Doch an seiner Schuld gibt es keinen Zweifel.

Derjenige, der in zwei bis drei Monaten rauskommt, ist ein ganz anderer Fall. Er ist höflich, zuvorkommend, hat viel Vorwissen und… ist unschuldig. Sind sie das nicht alle? Er hat seine Strafe verbüßt, aber er behauptet nach 15 Jahren immer noch, unschuldig zu sein. Und er führt ein gutes Argument ins Feld: Der Justizminister hat behauptet, dass jedes vierte Urteil ein Fehlurteil sei. Ja, da zählen auch kleinere Delikte zu. Fakt ist aber auch, wenn Du einmal einen Stempel hast, wirst Du den auch nicht mehr los. Es gibt manchmal klare Beweise, oft aber nur Indizien. Es gibt sogar eine Täterin, die gestanden hätte, aber sie hätte es auch zwischendurch mal wieder widerrufen. Da steh ich nun und überlege: Stimmt das, was er sagt? Ich weiß, es behaupten viele. Aber er ist bald raus. Durch mich hat er keinerlei Vorteile. Vielleicht braucht er das, um vor sich selbst besser dazustehen zu können? Vielleicht ist es auch die Wahrheit. Interessant ist nur, dass nachher meine Kollegen sagen, dass sie mit den Inhaftierten noch nie in der Tiefe gesprochen hätten. Fachlich, ja. Aber alles darüber hinausgehend? Ein klares Nein.

Da zeigt sich wieder deutlich, dass ich a) dieses Erzähl’s-mir-Gesicht habe und b) nicht auf Dauer hierfür geeignet wäre. Ist doch auch eine wertvolle Erkenntnis. Die Russen hingegen sind der Kracher. Sie beschweren sich nicht und sind bestens untereinander organisiert. Bei einem spielerischen Element pfeift einer seine Kollegen auf russisch an. Optisch sieht er ihm ähnlich, wenn auch deutlich jünger, aber ich sage ihm lachend: „Ich glaube, ich nenne Sie nur noch Putin.“ Er lacht, schnalzt mit der Zunge und bewegt den rechten Zeigefinger wie ein Metronom. Als ich beim Feedback frage, ob der Umgang so ok war oder ich zu frech war, sagt der Boss von ihnen: „Chätten Sie gemerkt wenn…“ Ich zucke spielerisch zusammen, was uns alle zum Lachen bringt. Für ihn steht fest: Für manche ist es schlimm hier. Für andere ist es das Paradies. Für ihn? Ach, da läuft’s gut hier. Immerhin war er zwei Jahre in Isolationshaft. Da sei das doch jetzt alles schick. Aaaaaah ja.

Wahnsinn, wie unterschiedlich das hier wahrgenommen wird. Nach 14 Tagen, sagen alle, hätte man sich ans Einschließen gewöhnt. Irgenwann freue man sich sogar darüber. Für mich ist das nicht vorstellbar. Und – so straffällig die Männer hier auch alle sind, sind sie doch eine Bereicherung für mich und meinen Horizont. Klingt echt komisch, ist aber so. In diesem Sinne bin ich gespannt auf morgen.

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