Et Sönnsche wechselt sich mit Wolken ab, so dass es nicht zu warm werden kann. Hach, das sind die ersten Herbstvorboten, die ich so sehr liebe. Meine Welt ist also gerade so was von in Ordnung…obwohl ich natürlich weiß, dass es morgen wieder anders sein kann, wenn ich wieder Teammeeting habe. Es kann aber sein, dass Heinz Urlaub hat. Gut, ja, ich packe vorsorglich mal Taschentücher ein. Es könnte sein, dass ich mir dann die Tränen trocknen muss. Ich lasse mich überraschen.
Heute Morgen telefoniere ich mit meinem alten Kollegen. Es gibt wirklich Menschen, die einem gute Laune injizieren – ganz ohne Nadel. Als ich vom Knast zurückkam, habe ich auch eine Karte von ihm im Briefkasten vorgefunden. Wer schreibt heute noch Karten??? Ich mache das auch gerne…und doch noch viel zu selten. Dabei freue ich mich immer wie ein Schnitzel, wenn ich eine Karte erhalte. Mein…mmmh, wie kann ich ihn eigentlich bezeichnen? Mein „väterlicher Freund“? Ich glaube, das trifft es fast am besten. Jedenfalls findet er immer die richtigen Worte, mich zu motivieren. Solche Menschen spornen mich an. Er war heute Morgen erstmal ein Ründchen mit dem Fahrrad am Rhein entlang unterwegs. Das macht er mittlerweile täglich. Im Winter geht er dann eher in die Muckibude. Schon lustig, wenn man sich so einen 81-Jährigen in der Muckibude vorstellt. Aber er hält sich fit. Nur heute war „et watt anstrengend, Mädchen“. Ganz einfach, weil er Gegenwind hatte. Entsprechend ist er im Anschluss ein paar Minütchen länger in der heißen Wanne liegen geblieben.
Er fragt mich, wie es im Knast war. Und ich berichte natürlich nur zu gern. Auch davon, dass ich beeindruckt von den russischen Werten bin. Irgendwie gehöre ich auch der alten Vorstellung an, dass ein Wort noch ein Wort ist. Und so kenne ich auch meinen väterlichen Freund. Nur haben diese Menschen natürlich einen ganz anderen Start ins Leben gehabt und sich ihre Schlupflöcher gesucht. Die muss ich nicht gutheißen, klar. Aber was hätte ich denn getan? Und so berichtet mir dieser Mann wieder von seiner Nachkriegszeit, bei der ich immer wieder so gerne zuhöre. Er hat zu den Schlüsselkindern gehört, weil seine Mutter arbeiten musste. Sein Vater ist im Krieg geblieben. Seine Mutter hat noch zwanzig Jahre nach dem Krieg darauf gewartet, dass ihr Mann zurückkommt. Erst als ihr erwachsener Sohn, der zur Bundeswehr gegangen ist, gesagt hat: „Mama, leb´ endlich jetzt! Er kommt nicht wieder. Du darfst loslassen.“, hat sie es zugelassen, mit ihrem neuen Partner nach Italien zu gehen. Beeindruckend, oder? So völlig weit weg von dem, was ich kenne.
Er erzählt mir wieder die Geschichten, wie er mit seinen Freunden durch Trümmer „geströpt“ ist, um Stahlträger zu finden. Dazu mussten sie manche Ruinen umstürzen, um an die Beute ranzukommen. Mit diesen Stahlträgern sind sie auf dem Fahrrad zum Metallhändler gefahren. Wie gefährlich das ist, kann sich wohl jeder vorstellen. Aber für ein paar Pfennige extra haben sie so ziemlich alles getan. So haben sie sich einiges finanziert. Oder er berichtet davon, wie gut er immer in Aufsätzen war. Also hat er einen Aufsatz geschrieben, ist früh aus dem Haus und hat sie Klassenkameraden angeboten, die beim Schreiben eher talentfrei waren. Und schon früh war er geschäftstüchtig: Er hat nie den ganzen Aufsatz auf einmal verkauft, sondern gesondert die Einleitung, den Hauptteil und das Ende. Das musste so sein, denn das Kino kostete damals 70 Pfennig. Um bei den Mädels mithalten zu können, musste man ins Kino. Not macht eben immer wieder erfinderisch. Dabei wird auch unendlich viel Kreativität freigesetzt. Und das hat er sein ganzes restliches Leben über nie verlernt. Dabei hätte er deutlich mehr Geld anhäufen können, weil er wirklich geschickt war. Aber ihm war sein Rückgrat immer genauso wichtig wie mir meins. Dafür musste er Rückschläge hinnehmen, aber er hat nie seine Ideale verraten.
Ach, ich finde es toll, solche Geschichten zu hören. Und ich habe heute schon Sorge, wann ich ihnen nicht mehr lauschen kann. Manches habe ich schon öfter gehört. Und doch ist es mit dem Düsseldorfer Dialekt und diesem Schalk im Nacken immer wieder spannend. Dazu ist er so verdammt positiv, dass mir jedes Mal das Herz aufgeht…und es auf mich abstrahlt. Ich habe zwangsläufig gute Laune nach so einem Telefonat – und ein fettes Grinsen im Gesicht. Aber machen wir uns nichts vor: Er ist 81 Jahre. Er kann noch so viel Sport machen, irgendwann wird auch er gehen müssen. Es gibt nur Wenige von denen, die aus dieser Zeit stammen und mit Begeisterung erzählen, wie sie aus nichts alles gemacht haben. Und dabei war manches nicht legal. Ich will das gar nicht verklären. Es zeigt nur, was Umstände aus Menschen machen: Sie holen das Beste aus einem heraus…und manchmal auch das Schlimmste. Wer bin ich, das bewerten zu können? Ich liebe es nur einfach, den unterschiedlichsten Geschichten zu lauschen. Es gibt so viele Lebensentwürfe…und dabei eben nicht den einen richtigen oder den einen falschen. Das macht es doch gerade so spannend.
Passend dazu läuft gerade „both sides“ von Joni Mitchell. Mmmh, vermutlich bin ich in der falschen Zeit geboren. Das denke ich manchmal. Und dann doch wieder: Es ist immer die genau richtige Zeit. Ideale haben kein Verfallsdatum. Keine zu haben, das wäre tragisch. Da habe ich lieber welche und rege mich oft über den Mangel an Empathie auf. Das hält mir meinen Blutdruck in Schwung. Ach…ist schon schön, dieses Ding, das man Leben nennt, oder?
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