Die Tagungsleute tagen lange – wie ich es befürchtet hatte. Sie sind ewig draußen, quatschen, gackern. Ich kann sie schon verstehen, dass sie gern noch zusammenhocken… und trotzdem wäre ein bisschen Rücksichtnahme auch was Feines. Doch sowie der Alkohol fließt… Nur so kann ich definitiv nicht pennen. Missmutig schließe ich das Fenster. Durchschlafen kann ich dann nicht, aber es geht.

Die heutige Truppe kenne ich noch gar nicht. Einem habe ich gestern allerdings angeboten, heute noch Teil eins nachzuholen, weil er es in seinem eigenen Team verpasst hat. Er war kritisch, hat die Inhalte hinterfragt und sich Bedenkzeit ausgebeten. Heute Morgen sitzt er mit in der Runde. Wenn das kein Erfolg ist! Das finde ich einfach klasse. Das Team nimmt ihn auch sofort herzlich auf, was nicht selbstverständlich ist. Aber sie sind anderseits auch knallhart. Heute werden Sehtests bei einigen durchgeführt, was auch einen meiner Teilnehmer betrifft. Ich sage ihm, welcher andere Häftling für die Organisation zuständig sei, damit er ihm die Info geben könne, wo er zu finden sei. Als er hört, wer diese Person ist, winkt er ab: „Der soll mich suchen.“ Ich bin noch guten Mutes und sage: „Na, aber so ein bisschen Kollegialität tut doch nicht weh, oder?“ Darauf antwortet er ganz ruhig: „Es gibt Menschen, die nicht mal das verdienen.“ Da erst macht es bei mir Klick! Dieser besagte Herr sitzt wegen Kindesmissbrauchs. Da kennen sie hier keine Gnade. Selbst im eigenen Team nicht, wie ich später noch erfahre.

Heute sind aber auch welche zu Beginn dabei, die zugeben, keinen Bock zu haben. Sie sind einfach ehrlich, was ich ja so sehr schätze. Aber sie sind in keiner Vollverweigerung – nur etwas zurückgenommen und abwartend. Ich werde hier immer aufs Neue überrascht: Sie machen nämlich nach kürzester Zeit aktiv mit und melden nachher zurück, dass sie eines Besseren belehrt worden seien. Es hätte sie selbst überrascht, wie gut sie es gefunden hätten und wie sinnvoll das Ganze doch sei. Ehrlich? Das würde in München so nie einer zugeben. Schon interessant, oder? In der Pause fragt mich einer der Teilnehmer, ob ich einen Psychologie-Hintergrund hätte? Was man nicht tut, tue ich – ich stelle eine Gegenfrage: „Wie kommen Sie darauf?“ Na, er wäre bei einer Therapeutin, und ich erinnere ihn an sie. Die Art, wie ich rede, die Geduld bei der x-ten Frage (der sollte mich mal bei Heinz erleben!!!), die anschaulichen, praktischen Beispiele aus dem Leben – da würde er auf den Hintergrund schließen. Dieser Mitarbeiter wird – laut eigener Aussage – bald entlassen und weiß nicht, ob er in zwei Wochen nicht bereits im offenen Vollzug sei. Aber er will auf jeden Fall für den zweiten Schulungsteil reinkommen. Herzig. Als ich den Produktionsverantwortlichen später frage, ob dies gehe, atmet dieser nur tief durch und sagt: „Klar geht das. Es wird aber nicht nötig sein. Er hat die Mindeststrafe verbüßt, aber er hat anschließende Sicherungsverwahrung. Wieso die immer glauben, das würde untern Tisch fallen, versteht keiner. Ähnlich wie Herr XY. Der dachte auch, nach 15 Jahren ist der raus. Nach weiteren 17 Jahren war es dann erst soweit.“ Oh. Also einer von den richtig Krassen. Dagegen nimmt sich einer, der seine Frau inflagranti erwischt und beide kurzerhand umbringt, fast harmlos aus. Und doch haben sie alle eins gemein: Die Hoffnung auf Haftentlassung und ein besseres Leben… Jeder Mensch hofft doch immer bis zuletzt.

Doch es gibt auch lustige Momente – wie eigentlich immer. Ich bin ja auch so eine dumme Nuss, dass ich immer Ähnlichkeiten mit anderen Menschen, Schauspielern, Tieren, Comicfiguren entdecke. So merke ich mir in der Tat am besten Menschen… also damit und mit ihrer Geschichte. Vor ein paar Wochen hatte ich beispielsweise Prinz Eisenherz mit von der Partie. Und nein, das sage ich ihnen natürlich nicht – außer bei dem kleinen Putin. Und wen habe ich heute hier sitzen? Becky. Becky wer? Na, einen Nachnamen zu Becky habe ich nie gehört. Es handelt sich um den Vogel bei „Findet Dorie“. (Nee, nicht Nemo, sondern Dorie.) Dieser Vogel, der den Hausfrauenblick draufhat: Links zur Wäsche, rechts zu den Klammern. Wo man nie sicher weiß, ob dasselbe Hirnareal für die Steuerung zuständig ist. Der Blick, bei dem man nie weiß, wer gemeint ist.

Es herrscht hier – wie man wohl erahnen kann – ein lockerer Umgang miteinander. Und ja, mittlerweile geht auch wieder die Kamera. Und dann gibt es wieder diese tragischen Momente. Die Frau von Becky hat seit März die Diagnose Brustkrebs. Sie wurde mittlerweile operiert und bekommt Chemo. In Zeiten von Corona ist es kaum zu verantworten, dass sie sich groß außer Haus bewegt, da sie zur Risikogruppe gehört. Puh. Wir reden ja zum Einstieg von Störungen. Und er nennt genau diese. „Sie glauben doch nicht, dass ich mich dann immer voll auf die Arbeit konzentrieren kann, oder?“ Nee, bestimmt nicht. Und da kann er gemacht haben, was er will – er ist auch nur ein Mensch, der sich um seine Frau sorgt. Da fehlen auch mir die passenden Worte. Ich wünsche ihm nur gute Besserung für seine Frau.

Nach der Schulung erfahre ich, dass der Inhaftierte, der nach meiner Nummer gefragt hat, erst letzte Woche einen Anschiss der Justiz kassiert hat. Er hat nämlich einer Vollzugsbeamtin einen Liebesbrief geschrieben. Prinzipiell ist das kein Verbrechen, aber wir reden hier auch von Sexualstraftätern. Da ist das nicht im Sinne der Therapie. Und ich? Könnte natürlich auch beleidigt sein, dass er es wohl bei allen versucht – ha ha. 😋 Was mir nicht in den Sinn käme, wäre das den Beamten zu stecken. Dann würde er Ärger bekommen und im schlimmsten Fall in den Bunker müssen. Schwierig… unsere Strafanstalten mögen milder sein als viele ausländische Haftanstalten. Aber der richtige, zielführende Weg zur Resozialisierung ist er nicht. Wir „züchten“ uns die „Monster“ selber. Dabei gäbe es einige, mit denen man sehr gut arbeiten könnte. Schon schade.

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