Gestern Abend klingelt um 22:18 Uhr noch mein Mobiltelefon. So was verknüpfe ich seit dem Schlaganfall meiner Mutter vor 21 1/2 Jahren automatisch mit schlechten Nachrichten. Ich greife zum Telefon und erkenne auch noch die Nummer meiner Eltern. Aufgewühlt melde ich mich und habe meine Mutter am Rohr, die nur mal hören wolle, wie schlimm Corona denn gerade in München sei? Ääääh…Ok, jetzt ist sie knatschjeck, wie man bei uns im Rheinland sagen würde. Ich frage sie, warum sie um diese Uhrzeit noch anrufe? „Wieso? Wie spät isses denn?“ Ich teile ihr die Uhrzeit mit. Zunächst glaubt sie mir nicht und eröffnet mir dann, sie müsse nun denn wohl ins Bett. Wir vermuten ja schon länger Anzeichen für Demenz. Wer weiß, ob dies Hinweise sind oder ob sie einfach nur „normal tüddelig“ ist? Jedenfalls geht sie dann doch nicht sofort ins Bett, weil sie mir erst noch alle schlimmen Neuigkeiten, schrecklichen Entwicklungen und überhaupt mitteilen muss. Was ist das, warum so viele Menschen gerne nur von Negativem erzählen? In der Generation meiner Eltern erlebe ich das noch häufiger als in anderen. Ich mag so was gar nicht. Also frage ich sie kurzerhand: „Gut, was ist denn Positives passiert?“ Kurze Pause, dann: „Positives? Was soll denn Positives passieren?“ Alles eine Frage der Einstellung, oder? Sie will wieder Negatives erzählen, aber ich schlage ihr ein, zwei positive Dinge vor, wie beispielsweise, dass die Tagespflege nach langer Schließung endlich wieder offen sei. „Ja, das stimmt. Da gehe ich ja gerne hin.“ Aha. Aaaaaaaaaber da ist auch einer, der krank geworden/gestorben ist, die Bezahlung der Pfleger ist Scheiße, Corona hat… Ich werde es nie begreifen, wie jemand es schafft, immer in allem auch das Negative zu sehen. So war sie nicht immer. Ein richtiger Optimist war sie früher auch nicht – eher jemand, der sich stets ins Schicksal gefügt und sich klein gemacht hat. Nur ist sie in den letzten Jahren negativer und negativer geworden, was nicht – wie manche jetzt bestimmt gerne entgegnen wollen – an ihrem Schlaganfall liegt. Wie lautet das alte Sprichwort: „Sag´ mir, mit wem Du Dich umgibst, und ich sage Dir, wer Du bist.“ Wenn ich permanent von Nörglern, Pessimisten und Miesepetern umgeben bin, färbt das ab. So auch hier. Und natürlich treten dann all die Vorwürfe und Erpressungsversuche erneut zutage. Ich bin stolz auf mich, wie ruhig ich bleibe und ihr sage, was sie gerade wieder tue. Nur verletzt es mich natürlich trotzdem. Ich wünschte, ich hätte diese „gesunden“ Familienstrukturen, in denen Kinder auch als Erwachsene noch die Geborgenheit im Familienkreis erleben. Ein Spruch ist dann auch wieder so ein Nädelchen: „Du bist Deine Einsamkeit ja auch selbst schuld.“ „Wer sagt, dass ich einsam bin?“ Ihre Welt ist einfach: „Weil Du ja nicht hier, sondern weit weg bist.“ Ah ja. Das macht mich zwangsläufig einsam. Wieso können viele Menschen nicht einfach andere Lebensentwürfe akzeptieren? Wieso gibt es so viel schwarz und weiß? So was erschöpft mich. Daher halte ich mich von dieser Einstellung – und zwangsläufig dann auch von solchen Menschen – fern.
Ganz anders erlebe ich es dann heute Vormittag. Zunächst frühstücke ich in Ruhe, bevor ich meine Sis anrufe. Anschließend möchte ich ins Badezimmer schlurfen, um mich zu duschen, als mein Handy klingelt. Beim Namen im Display huscht schon ein Grinsen über mein Gesicht, und so melde ich mich mit: „Aaaaaaaach, guten Morgen, Herr Leckebusch!“ Und es ertönt ein donnerndes Lachen: „Frau Möhrenfeld, ich hoffe nicht, Sie aus dem Bett geworfen zu haben?!“ Es ist mein ehemaliger 81-jähriger Kollege aus Düsseldorf. Er fragt, ob ich mal wieder im Knast war? Ich berichte ihm alles ausführlich, auch meine Trauer, dass die Schulungen vorbei seien, ich aber ein neues Betätigungsfeld in der Flüchtlingshilfe gefunden habe. Es fällt mir so leicht, mit ihm darüber zu reden, weil er in vielen Dinge so ähnlich tickt.
Ein Beispiel hierfür: Der Radiologe fragt ihn letzte Woche, ob er noch wisse, wann er zuletzt da gewesen sei? Nö. Nach seinem Fahrradunfall vor 14 Jahren. Aha. Da ergänzt der Arzt: „So fit, wie Sie sind, können Sie locker 100 Jahre alt werden.“ Darauf entgegnet er: „104!“ Der Arzt stutzt und fragt, warum denn nun in Gottesnamen 104? „Ich habe noch so viele Ideen, da brauche ich die Zeit!“ Das finde ich eine geniale Haltung. Er hat x Ideen im Kopf, hört aber auch aufmerksam zu, wenn ich ihm meine erzähle. Und dann bestärkt er mich, wie kein Zweiter, dass ich all das schaffen werde, ganz einfach, weil ich das wolle. Und das Beste: Ihm glaube ich das. Er sagt das auf eine besondere Art, erklärt mir, warum er weiß (nicht glaubt!), dass ich dazu in der Lage sei und zählt mir meine besten Voraussetzungen dafür auf. Es tut gut, Menschen zu haben, die einen bestärken. Und ja, es gibt Freunde, die mich auch unterstützen, wofür ich sehr dankbar bin. Aber er füllt wohl die Lücke des stolzen Vaters, schätze ich. Er vermittelt mir zumindest diesen Stolz und ist mein stärkster Befürworter. Wunderbar, solche Menschen an seiner Seite zu wissen, oder?
Beim seinem letzten Treffen mit Bekannten jammern diese über ihre Urlaube in Golfressorts. Bei den einen war der Rasen nicht akkurat genug getrimmt, bei den anderen waren die Polsterungen des Golfwagens nicht gut genug. Und dann mussten sie ja aus diesen Ländern abreisen, weil die Coronazahlen gestiegen seien. Als sie ihn und seine Frau fragen, wo sie denn gewesen seien, dass sie so knackebraun und erholt aussehend hat werden lassen, antwortet er gelassen: „Ach, wir hatten die beste Unterkunft mit allem Zipp und Zapp. Perfekte Radwege, die super ausgebaut sind, feinstes Essen – und vor allem: Überall ohne Mundschutz!“ Die anderen – ganz neidisch – wollen den tollen Insider-Tipp erhalten, als er nur leise flüstert: „Balkonien! Ist noch sehr geheim, aber echt idyllisch.“ Und dann sagt er mir, wie glücklich er doch dran sei. Er und seine Frau seien gesund, er könne täglich mit dem Rad am Rhein entlangfahren und immer dann ein Pöttchen Kaffee oder Tee schlürfen, wenn ihm danach sei. Ich denke wieder an seinen Oppa, der ihm ja von kleinauf erzählt hat, wie glücklich er sich schätzen könne, da die ganze Straße ihm gehören würde. Er könne überall herumlaufen und mit dem Fahrrad fahren, wo er wolle. Alles eine Frage der Sicht…
Das sind Menschen, an denen ich mir nur zu gerne ein Beispiel nehme. Und nein, er ist nicht frei von Fehlern. Aber er nimmt das Leben, wie es ist und zieht dabei das Beste für sich heraus. Ein Telefonat mit ihm ist besser als eine heiße Schokolade im Winter. Es ist, als könne ich dadurch meine Batterien auftanken. Und was sagt er zum Abschied? „Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie gut es mir immer tut, mit Ihnen zu plaudern. Sie sind einfach eine verwandte Seele, die genauso viel Temperament hat wie ich…und anpackt, statt zu jammern.“ Naja, manchmal jammer´ ich auch. Aber im Grunde stimmt es schon. Wenn ich mal wieder denke, ob ich eigentlich noch alle Latten am Zaun habe oder es doch die Verrückten da draußen sind, die eher sauber ticken, dann bin ich froh, eine „verwandte Seele“ zu kennen, die mit dieser Art so alt geworden ist. Im Dezember werden wir uns sehen und gemeinsam klönen. Darauf freue ich mich sehr. Das letzte reale Treffen liegt nämlich schon wieder drei Jahre zurück.
Derart beschwingt, geht mir die Hausarbeit leichter von der Hand. Ich freue mich auf all die Abenteuer, die da draußen auf mich warten – die positiven, als auch die lehrreichen. Jetzt schlürfe ich ein Pöttchen Tee, denke an all die lieben Geister in meinem Leben und dass mein Glas mehr als halbvoll ist.
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