Viele Wege führen nach Rom. Ich schätze, dieses Sprichwort kennt so ziemlich jeder – selbst mein komischer Kollege. Und an diesem Sprichwort ist auch was dran. Es gibt selten nur eine Lösung für Probleme, eine Sichtweise auf etwas. Dabei wird uns das ja in der Schule gerne so eingetrichtert, dass es genau eine ideale Lösung für ein jeweiliges Problem gibt. Es hat viele Jahre gedauert, bis die Erkenntnis in mir gereift ist, dass meine Lösung nicht die von einem anderen sein muss. Und vermutlich noch länger, bis ich nicht mehr meine Lösungen rechtfertigen wollte. Das Wort „überzeugen“ löst in mir fast schon Brechreiz aus. Ich will nicht über etwas oder jemand anderem sein. Meine Vorstellung muss nicht die eines anderen sein. Allerdings stelle ich immer wieder fest, dass es doch viele Menschen gibt, die mich überzeugen wollen. Warum? Ich habe eine Haltung…zu vielem habe ich eine Meinung. Aber das ist nur meine Haltung oder mein Umgang mit etwas. Warum fällt es manchen nur so schwer, andere nicht bekehren zu wollen? Und selbstverständlich bin ich auch schon in die Falle getappt, anderen helfen zu wollen, damit sie aus ihrem „Elend“ herauskommen können, ohne mich wirklich gefragt zu haben, ob das in deren Interesse liegt? Meine Maßstäbe müssen ja nicht für andere gelten. Das ist gar nicht immer so leicht, sondern ein ständiger Prozess und auch ein bewusst Machen dafür, was man da gerade tut. Ist das wirklich im Interesse meines Gegenüber oder ist es das, was ich auf ihn/sie projiziere?

Warum ich – mal wieder – in dieser philosophischen Stimmung bin? Naja, es ist mal wieder meine Familie. Ich bin aufgewachsen in dem Wissen, dass mein Vater immer recht hat. Das ging die ersten paar Jahre ganz gut. Dann wurde es schon schwieriger. Jede Diskussion war von vorneherein mit klarem Ausgang deklariert: Er hat am Ende recht. Das Positive an der Sache: Ich kann heute sehr gut argumentieren, höre gut zu, was der andere sagt und trete selbstbewusst auf. Es hat mich durchaus geprägt. Doch dieses Gerechtigkeitsding in mir wurde seit frühester Kindheit immer wieder getriggert.
Nun sind die Jahre ins Land gezogen. Es dauerte durchaus, bis ich meine Loyalität der Familie gegenüber stetig abtragen konnte. Selbst heute ertappe ich mich noch bei Rückfällen und ärgere mich dann über mich selbst (was natürlich auch kontraproduktiv ist).
Ich bin durchaus eine Optimistin, aber ich brauche es, mir die worst case Szenarien zu überlegen. Es gibt Menschen, die alles Schlimme einfach ausblenden und sagen: „Et kütt, wie et kütt.“ Und daran glaube ich auch durchaus. Und dennoch brauche ich es, mich gedanklich auf die schlimmsten Szenarien einzustellen, damit sie mich dann nicht mehr von den Socken fegen können. Jetzt könnt Ihr sagen: „Macht das nicht jeder so? Die Realität ist doch dann immer besser als das, was man sich in den schlimmsten Albträumen ausgedacht hat?!“ Jein. Ich denke schon, dass wir vor Prüfungen alle Schiss haben und das schlimmste Szenario durchspielen. Ich hingegen spiele gedanklich immer schon die nächsten zehn, fünfzehn Schritte von allem möglichen durch. Durchbrechen kann ich das irgendwie nicht. Daher gehe ich auch Konflikten selten aus dem Weg, weil ich immer wissen möchte, woran ich bin. Das geht selbstverständlich nicht immer, aber häufig schon. Ich baue unterschiedlichste Szenarien auf. Was ich nicht weiß, erfrage ich in der Regel. Hier ist meine Sis das genaue Gegenteil. Ihre Strategie, sich vor Verletzung zu schützen, ist nicht weiter nachzubohren. Nach dem Motto „Was ich nicht weiß, ist auch nicht“, begegnet sie dem Leben. Dafür bewundere ich sie manches Mal. Ich hingegen bohre und drehe Steine um. Ich verabscheue die Unwissenheit und muss den Dingen auf den Grund gehen. Zwei unterschiedliche Wege, die nach Rom führen, wenn man so will. Dabei sind wir uns wichtig und verlieren uns auch nicht aus dem Blick. Und das Wichtigste: Wir wollen die jeweils andere nicht davon überzeugen, es doch anders zu machen. Dafür bin ich unendlich dankbar. Und daher leiden wir vermutlich auch zu unterschiedlichen Zeiten.
Ein Beispiel: Mein Vater begibt sich mal wieder ins Krankenhaus. Und auch, wenn das eigenartig und überspitzt anmutet, stimmt es: Er liebt es, im Krankenhaus zu sein. Da steht er im Mittelpunkt, er hat das Gefühl, bedürftig sein zu können und dass sich die gesamte Welt um ihn dreht. Doof nur, dass er eine behinderte Fraue Zuhause hat. Dass die in der Zeit versorgt werden muss, ist noch blöder. Dazu müsste man Leute fragen oder aktiv Pflegeheime kontaktieren. Er macht es anders. Für das Auto bzw. dessen Inspektion kann er zwei Wochen vor Krankenhausaufenthalt sorgen, denn das ist ja wichtig. (Ja, mir ist durchaus bewusst, dass meine Worte vor Sarkasmus triefen.) Ab montags muss für meine Mom ein Platz vorhanden sein. Mittwochs abends vorher informiert er erst meine Sis. Eigentlich zunächst nur, um ihr sein Leid zu klagen, dass er ja ins Krankenhaus müsse. Das mit meiner Mom ist nachgelagert, denn er braucht ja volle Aufmerksamkeit. Erst dann kommt er dazu, dass meine Mom dann solange in Pflege müsste. Auf die Frage hin, wo sie denn dann sei, weiß mein Vater keine Antwort. Naja, irgendein Heim wird sie ja aufnehmen, wobei eigentlich nur eines infrage käme. Und jetzt dürft Ihr dreimal raten, ob das so gelingt? Natürlich nicht. In seiner kleinen, verdrehten Welt ist mein Vater erbost, dass es da so kurzfristig keine Möglichkeit gebe! Und auch nach zweistündigem Telefonat mit Vollnölen, wie arm er doch dran sei, haben sie nicht kurzerhand noch ein Zimmer für ihn angebaut! Potzblitz, wie böse von denen! Es hilft alles nichts, sie kommt in ein anderes Pflegeheim, das aber natürlich vollkommen „Scheiße“ ist – sagt mein Vater und daher nun auch meine Mom. Dabei waren dort auch meine Oma, die Schwester meiner Mom und ein Großonkel zur Kurzzeitpflege, bei denen alles gut war. Aber nein, wenn mein Vater sein Evangelium gelesen hat, dann entspricht das der Wahrheit. Er bringt meine Mom dann auch zu diesem Heim, aber packt keinerlei persönliche Gegenstände, kein Buch, keine Zeitschrift, kein Foto, nicht einmal Duschgel hinzu. Angemeldet ist sie auch nur halbwegs, so dass sie auch noch kein Telefon haben kann. Ist aber nicht weiter wichtig, denn für seine Sachen ist gesorgt. Bei anschließenden Telefonaten ist es dann meine Mom, die ihn aufbaut und ihm Mut zuspricht für die anstehenden OPs. Paradoxe, kranke Welt. Ich sag´ ja: Ich muss das nicht verstehen, aber sie haben sich ihr Leben immer schon so eingerichtet: Der Herr spricht und befiehlt, die Frau dient. Basta.
Das alles wabert natürlich auch in meinem Hinterkopf umher. Die anstrengenden Umstände bei der Arbeit verlangen zwar meine Aufmerksamkeit und Energie, doch selbstverständlich lässt mich das Schicksal meiner Mom nicht kalt. Das Schicksal meines Vaters schon eher. In klitzekleinen Momenten tut er mir leid, weil er so verquer auf die Welt blickt, die ihm nur Böses will. Er gönnt niemandem nur das kleinste Bisschen…nicht mal das Schwarze unterm Fingernagel. Dieses Verständnis für ihn und der Glaube an sein unbedingtes Recht wurden mir von kleinauf eingetrichtert, weshalb es selbst heute noch manchmal schwer abzustreifen ist. Völliger Schwachsinn, das weiß ich rational. Aber emotional ist es einfach etwas anderes.
Demgegenüber steht ein weiterer Bock, den er geschossen hat und der den Unterschied in der Herangehensweise von meiner Sis und mir verdeutlicht. Irgendwann letztes oder vorletztes Jahr hat mein Vater sein Stammbuch gesucht und meine Sis danach gefragt. Das in Kombination mit einem Notartermin, der wohl an der Wand angepint war, lassen meine Rädchen im Hirn auf Hochtouren laufen. Da ich ja aber nicht mehr nach Hause fahre und den Kontakt zu meinem Vater vollständig abgebrochen habe, kann ich nicht nachfragen, was es damit auf sich hat. Ich bewundere meine Sis mal wieder, die gar nicht nachfragt. Sie will es gar nicht wissen. Mich treibt es hingegen um. Und so rede ich mit Freunden, recherchiere im Netz und suche nach Anhaltspunkten. Fakt ist, man braucht kein Stammbuch für eine Enterbung meinerseits. Und ganz ehrlich? Das würde mich auch vollkommen kalt lassen. Was ist es dann? Meine Vermutung ist, dass er eine Asylanbewerberin, die er seit Jahren wie eine Tochter behandelt, adoptieren will. Klingt wildromantisch, ist es aber nicht. Da geht es meinem Vater leider auch nur darum, seinen Kopf durchzusetzen. Diese Frau ist dumm und faul – eine schwierige Kombination. Da sie aber wenig helle ist, ist das für meinen Vater wiederum Auftrieb. Das ist auch der Grund, warum seine Töchter für ihn so blöde sind: Wir sind unabhängig und brauchen ihn nicht. Er braucht bedürftige, dumme Menschen um sich herum – doch gibt es nicht so viele, die seine Intelligenz unterbieten können. Ja, ich weiß, wie hart, kaltherzig und böse das klingt. Die Wahrheit ist leider nicht immer schön. Heute kam dann raus, dass er wohl nicht sie, sondern ihren Sohn adoptieren wollte. Mindestens eine Schwester von ihm wusste davon. Diese hat ihm auch ins Gewissen geredet, er müsse das mit seinen Töchtern besprechen, denn das sei nichts, was man leichtfertig machen könnte/ sollte. Das hat ihn komischerweise nicht gejuckt. Mich überrascht es allerdings mal wieder nicht. Er hatte schon das Stammbuch, den Notartermin und alles Mögliche in die Wege geleitet (da kann er dann doch aktiv werden), aber eine Richterin habe ihn wohl ausgebremst und ihm keine Chancen auf Erfolg in Aussicht gestellt. Meine Sis weint am Telefon. Sie ist wütend, traurig, verletzt…und ja, sie schämt sich auch für ihn. Ich fühle in mich rein. Da ist nichts. Also nichts, was ihn betrifft. Über den Zustand habe ich zu viele Tränen vergossen, da ist nichts mehr übrig. Was mich hingegen wütend und traurig macht, ist meine Sis weinen zu hören. Das hat sie nicht verdient. Ich sage ja: Wir leiden zu unterschiedlichen Zeiten. Im Grunde meines Herzens wusste ich das doch längst, denn es war das einzig mögliche Szenario. Doch die hat meine Sis ja nie durchgespielt. Einzig die Erkenntnis, dass mindestens eine Schwester von ihm Bescheid wusste, weckt mein Interesse. Sie weiß, was ihr Bruder in den letzten Jahren so alles angestellt und verbockt hat. Sie weiß, dass er uns mental mit Füßen tritt. Und dennoch ist sie mit von der Partie, wenn es darum geht, dass wir „Mädchen“ uns kümmern müssten – wohlwissend, dass wir von den elementaren Dingen immer ausgeschlossen werden.
Sätze meiner Mom, wie: „Ach, wir hätten Euch längst das Haus überschreiben müssen, damit der Staat sich das später nicht mehr holen kann. Aber Papa hat Angst, dass Ihr uns dann einfach so raussetzt“, tun einfach weh. Wir wollen beide das Haus nicht haben, wollten es nie. Wir haben nie etwas gefordert und noch weniger bekommen. Als das Haus meiner Oma entrümpelt werden musste, bevor man es verkaufen konnte, haben mein Schwager, meine Sis und ich die komplette Arbeit übernommen. Als Dank wollte uns meine Mom von dem erzielten Gewinn etwas abgeben, was keine von uns angenommen hätte. Doch dazu kam es nicht: „Der Papa hat gesagt, das braucht er selbst. Da könnte er nichts von abgeben.“ Es war das Erbe meiner Mom, aber das zählt ja nicht.
Manchmal habe ich Angst, hartherzig zu werden und abzustumpfen, weil ich in solchen Momenten nichts (mehr?) fühle. An anderer Stelle springt mein Herz jedoch sehr wohl an. Ich habe eine tolle Sis, einen tollen Schwager und wunderbare Neffen. Solange ich so für diese Menschen empfinden kann, ist mein Herz nicht kalt. Ich habe wohl einfach meine Strategie angepasst, um mich zu schonen. Vielleicht erschließt sich das nicht aus den paar Zeilen heraus, da es nur die Spitze des Eisbergs ist, was Zuhause abgelaufen ist. Vielleicht denken viele immer noch, dass Missbrauch lediglich physisch vonstatten geht. Ich möchte niemanden „überzeugen“, wie er/sie in ähnlichen Situationen handeln sollte. Ich möchte einfach nur meinen inneren Frieden, denn der ist ein kostbares Gut…und liegt manchmal in so weiter Ferne.

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