Ich weiß nicht, wie es Euch so geht? Bei mir ist es Ende des Jahres immer so, dass ich Bilanz ziehe. Ich schaue, was in dem Jahr so passiert ist – was gut war, was ich ändern möchte, wofür ich dankbar bin – und wie der Ausblick fürs nächste Jahr so aussieht. Es war ein gutes Jahr. Verglichen mit dem letzten, war es weit weniger stressig. Ja, es gab genug zu tun. Aber die Prüfung im letzten Jahr hat mir ganz anderes abverlangt. Daher bin ich nicht völlig platt, was auch mal schön ist.
Trotzdem bin ich natürlich nachdenklich und erwische mich bei leichten Panikanflügen – vor allem nachts – ob ich der neuen Herausforderung gewachsen bin? Es wird schon irgendwie werden, und es reizt mich ja auch total, endlich wieder was Neues zu machen. Und doch sind da natürlich auch Versagensängste. Zeitgleich will ich meine jetzige Stelle möglichst sauber hinterlassen. Das spielt meiner Chefin in die Karten, die sich noch einiges von mir erhofft. Da muss ich höllisch auf mich selbst aufpassen, weil ich dazu neige, noch mehr und noch mehr zu liefern, damit bloß niemand anschließend sagen kann: „Naja, die war ja eh auf dem Absprung. Zuletzt hat die sich ja nur noch den Po platt gesessen.“
Dabei wird es immer Menschen geben, die schlecht über einen reden. Ein Abteilungsleiter hat beispielsweise gesagt, jetzt könne er sich auch erklären, warum ich ihn nicht mehr gecoacht hätte. Ich hätte bestimmt da schon gewusst, dass ich die Firma verlassen würde. Ääääh…nein. Erstens wusste ich das zu dem Zeitpunkt nicht und zweitens habe ich weit im Vorfeld angekündigt, dass ich ab Mitte November in Gleitzeit- und Urlaubsabbau sei, weshalb ich das Coaching leider nicht übernehmen könnte. So was fuchst mich, wobei ich mir wünschte, mehr die Einstellung zu besitzen: „Sollen sie doch reden – solange lebe ich auch noch, und die haben was zu tun.“ Aber ich will immer überall „sauber“ rausgehen. Gar nicht so ohne, mein eigener Anspruch.
Und so habe ich auch überlegt, ob ich meine Mom noch mal in der Tagespflege besuchen sollte. Ich nehme gerne Entscheidungen vorweg, die für andere negative Konsequenzen haben könnten. Und da ich weiß, dass meine Mom nicht den Mund halten kann, wenn sie mich sieht, wollte ich ihr den Ausraster meines Vaters ersparen. Als wir letztens telefoniert haben, meinte sie, sie könne durchaus auch darüber schweigen (was ich ihr leider nicht abkaufe. Sie ist wie ein kleines Kind.). Aber dann haben mir zwei Freunde ins Gewissen geredet, ihr nicht die Entscheidung abzunehmen. Wenn sie mich sehen wolle und inkauf nehme, meinen Vater danach tobend Zuhause zu haben, sei das ihre Entscheidung. Puh, schwierig, schwierig, weil ich nicht möchte, dass sie darunter leiden muss. Und doch ist da so ein kleines Stimmchen in mir drin, das mir zuflüstert: „Du willst Deine Mom doch auch noch mal sehen.“
Leicht ist dieser Gang für mich nicht, weil er einem Spießrutenlauf gleichkommt. In der Tagespflege sind fast alle von meinen Eltern geimpft, wie böse ich doch bin. Trotzdem wage ich den Gang, bei dem mir das Herz bis zum Hals hochschlägt. Unentwegt muss ich aufpassen, dass ich nicht zu heulen anfange, weil ich mich freue, meine Mom zu sehen und sie sogar meinen Schal, den ich ihr von Peru mitgebracht habe, trägt. Natürlich beginnt sie sogleich ihr Klagelied, wie arm mein Vater dran sei. Zudem berichtet sie mir von dem bösen Brief, den meine Schwester ihm geschickt habe. Ich habe ihn eigenhändig zur Post gebracht, weil meine Schwester da noch krank war, aber das behalte ich für mich. Allerdings behalte ich nicht für mich, dass der Brief nicht böse gewesen sei. Immerhin habe ich ihn gelesen und weiß, was drin steht. Doch meine Mom beharrt darauf. Hätte ich ihn verfasst, wäre er deutlich schärfer ausgefallen, aber gut.
Und dann kommt doch der erste Giftpfeil: Ob ich meine Schwester dazu gebracht hätte, mit meinem Vater zu brechen? Ich frage zurück: „Traust Du mir das echt zu?“ Ihre Antwort: „Ich will es nicht hoffen!“ Mit seinen Schwestern habe er ja auch Zoff, was an meiner Schwester liege, die denen ja dazu geraten hätte. Ich sitze da und staune nicht schlecht. So was fällt meiner Mom nicht selbst ein, das sind die kruden Ideen meines Vaters. Aber ich wundere mich schon sehr, wieviel Energie er dafür aufbringen kann, sich seine Welt so zu gestalten, dass er immer das Opfer ist. Zahlreiche Ablenkungsmanöver und Bitten meinerseits, doch über andere Themen zu sprechen, laufen ins Leere. Und so sage ich: „Und bei all den Menschen, die mit Deinem Mann Ärger haben, kommst Du nie auf die Idee, dass es an ihm liegen könnte?“ Vielleicht ein bisschen, aber im Grunde? Nein. Hammer. Wie kann ein Mensch der Falschfahrer auf der Autobahn sein und denken, alle anderen Menschen würden falsch liegen bzw. fahren?
Ihre Unterstellungen verletzen mich, aber es hält sich noch in Grenzen. Immerhin sage ich ihr mehrfach, dass ich mich einfach freue, sie zu sehen und das Positive hervorheben möchte. Sie verabschiedet sich nicht einmal von mir, weil ihre Aufmerksamkeitsspanne dafür nicht mehr reicht. Sie sitzt an ihrem Tisch mit ihren Bekannten, weshalb ich blitzschnell vergessen bin. Nein, das nehme ich ihr nicht übel – auch wenn es trotzdem schmerzt. Sie lebt in ihrer kleinen Welt, in der nur ganz wenig zählt. Ich wünschte mir für sie, sie hätte ein schöneres Leben, aber das scheint nicht ihr Wunsch zu sein. Sie hat sich für diesen Mann entschieden, der sie Zeit ihres Lebens entwertet hat und den sie dennoch vergöttert. Des Menschen Wille ist sein Himmelreich.
Ich verlasse die Tagespflege, gehe zum Auto und rufe eine Freundin an. Und dann weine ich. Die Anspannung fällt von mir ab, ein paar Giftpfeile stecken noch in meiner Haut…und ich bin einfach traurig. Ich gönne jedem, ein schönes Elternhaus gehabt zu haben. Und doch hätte ich es auch gerne für meine Schwester und mich auch gehabt. Ich habe gute Freunde, meine coolen Neffen, meine Schwester und meinen Schwager. Da bin ich schon auch gesegnet…und trotzdem gibt es diesen schmerzenden Teil in mir, der nie ganz heil werden wird. Ich schätze, so etwas hat mehr oder weniger jeder. Auch als die Tränen versiegt sind, hängt für den Rest des Tages und in Teilen auch heute noch eine Art Glocke über mir, die alles etwas dämpft. Vorhin beschreibe ich es meiner Schwester gegenüber so: „Sie sind Freudenkiller.“ Sie nickt nur bestätigend. Zuerst wollte ich ihr nichts von gestern erzählen, um sie zu schützen. Aber eine Freundin meinte richtigerweise: „Du würdest es wissen wollen, damit Du Dich bestätigt fühlst, richtig gehandelt zu haben mit diesem Bruch.“ Und genauso verläuft das Gespräch auch. Schade, dass es Freudenkiller gibt. Noch trauriger, dass sie ein Teil meiner Familie sind. Und doch auch schön, zu sehen, dass ich mein Leben anders gestalten kann.
In diesem Sinne: Gestaltet Euch Euer Leben so, wie Ihr es als richtig erachtet, pfeift darauf, was andere denken, was das Richtige sei, und habt Verständnis für Entscheidungen anderer – wir wissen alle nicht, wer was erlebt hat.
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