Eine weitere Woche liegt hinter mir. Tatsächlich habe ich damit bereits den ersten Monat im neuen Unternehmen überstanden. Krass, wie schnell das jetzt ging. Meinen Platz gefunden habe ich natürlich noch nicht ganz. Während der eine Bereich für mich einem Spaziergang gleicht, weil ich darin jahrelange Erfahrung habe, ist der andere Bereich für mich umso undurchdringlicher. Meine Kollegin macht es mir da auch nicht unbedingt leichter – vermutlich gar nicht mit Absicht. Und trotzdem passt es natürlich herrlich in mein Konstrukt von der bösen, blöden Kollegin. Mit einem Freund habe ich am Wochenende darüber gesprochen. Er war schon behutsam, aber die Botschaft kam dennoch rüber: Mach´ es Dir doch nicht selbst so schwer. Ich meine ja auch immer, über jedes Stöckchen springen zu müssen. Und genauso, dass ich mich beweisen muss. Dabei muss ich das gar nicht. Nicht jeden werde ich in der neuen Arbeit lieben – und umgekehrt verhält sich das natürlich ähnlich.
Apropos Lieben: Mein „Date“ am Montag verlief recht harmlos. Da mein Kollege einen vorarlbergischen Dialekt nuschelt (ich denke an „Schuh des Manitu“: „Der spricht aan ganz aan komischen Dialekt“), muss ich ständig nachfragen, weil sich mir die Semantik nicht erschließt. Mittlerweile habe ich ja verstanden, dass „moal, moal“ als „ja“ zu deuten ist. Da soll mal ein normalsterblicher Mitteleuropäer durchsteigen! Zwischenduch verlässt er mich dann auch, weil er sich ein Lungenbrötchen reinpfeifen muss. Und dann tätschelt er meinen Arm immer wieder, dass ich mir denke: „Na, wenn´s Dir Spaß macht! Ich bräucht´s nicht, aber mei.“
Er ist im Grunde recht maulfaul, was mir schon vorher aufgefallen ist. Aber mit den richtigen Fragen, kommt er dann doch ins Plaudern. Und was er berichtet, weckt ein paar Seufzer in mir. Sein Vater dankt seiner Frau bis heute jeden Tag fürs Essen. Hääää? Mein Vater hat bis zuletzt jeden Tag am Essen meiner Mutter was auszusetzen gehabt – da verging kein einziger Tag, an dem er das ausgelassen hätte. Irgendwas fand sich immer, was er bemäkeln konnte, dabei hat sie richtig gut gekocht. Seine Eltern seien auch zu ihm und seinen beiden Schwestern immer lieb gewesen. Auf der einzigen Fahrt ins Ausland in seiner Jugend, sind sie nach Ungarn gefahren. Da er eine Blasenentzündung hatte, musste der Vater 17 Mal rechts ran fahren, damit er pinkeln konnte. Sein Vater hat das mit stoischer Gelassenheit erledigt und nicht einmal gemeckert. Wenn ich daran denke, wie lieb und brav wir uns immer verhalten mussten, wenn mein Vater zugegen war und was ihn alles so genervt hat. Meine Art zu essen war immer Anlass genug, mich Spastiker zu nennen. Eine Tatsache, die mich heute noch sehr oft verunsichert, wenn ich mit anderen Menschen zusammen esse. Und alles hatte zu geschehen, wie er das wollte. Selbst heute noch seien seine Eltern zufriedene, glückliche Menschen. Jeden zweiten Sonntag im Monat kommen zuerst sein Vater und später dann die Mutter zum Frühschoppen zu ihm rüber (sie wohnen direkt nebeneinander). Sein Vater sei auch sein bester Freund, mit dem er über alles sprechen würde – mit 53 Jahren! Ich finde es toll, wenn Eltern und Kinder so ein Verhältnis pflegen…nur kenne ich es so leider überhaupt nicht. Es ist dieses dämliche Mangel-Denken, was mich dann sehnsüchtig stimmt. Auf der anderen Seite wird bei ihnen wohl ständig gebechert. Und nahezu die ganze Familie wohnt in derselben Straße. Da bemerke ich schon, wie es mir die Luft abschnürt. Er berichtet auch von seinen Kindern, die ich gar nicht vermutet hatte. Geschieden ist er wohl auch schon länger, aber das Verhältnis zu den Kindern sei einwandfrei. Seine Tochter – und hier gerät er ins Schwärmen – sei einfach perfekt. Sie habe ihm nie Scherereien gemacht, würde in ihm immer noch den Helden sehen (mit 24!) und sei einfach ein Geschenk. Sein Sohn? Mei, das sei nicht so leicht, ihm dabei zuzuschauen, wie er die gleichen Fehler wie sein alter Herr beging. Aber der sei schon auch „a guada Buar“. Welche Fehler das seien, da will er sich lieber bedeckt halten. Dennoch klingt alles nach Harmonie pur. Zum Schluss bittet er mich nur darum, nichts davon in der Arbeit zu erzählen. Da wüsste niemand was von ihm privat. Mich wundert´s zwar, warum ich diese Dinge erfahre, aber ich muss ja nicht alles verstehen.
Tags drauf startet ein internationaler Tag. Kollegen aus aller Herren Ländern treffen sich online (wir vor Ort) zum Austausch bzw. um Prozesse zu optimieren – und das jeden Monat. Krass. Meine Ungeduld zeigt sich mal wieder darin, wie genervt ich von mir selber bin, meine Gedanken nicht schneller in englische Worte kleiden zu können. Nachmittags bin ich dann nur noch mit meinem amerikanischen Kollegen im Austausch, der im Sales-Bereich arbeitet und keinen wirklich Sparringspartner hat, weil sonst nahezu alle für die Produktion oder Administration tätig seien. Ihm fehlten Beispiele für seinen Bereich. Und so entspinnt sich ein Gespräch mit Ideen, die ich noch aus meiner Vertriebszeit aktivieren kann. Es macht riesigen Spaß, wäre da nur nicht regelmäßig dieser Knoten in meiner Zunge. Dafür entschuldige ich mich dann auch, was Craig sofort abtut. Ich komme aber nicht umhin zu bemerken, wieviel Weg da noch vor mir liegt. Andererseits habe ich in dem Monat schon einige neue Vokalbeln gelernt. Geuld, wo bist Du nur, wenn ich Dich brauche…also quasi immer?!
Abends treffe ich dann die Masterandin, die ich vom Onboardingprozess her kenne. Sie ist immer quirlig und unterhaltsam, aber heute etwas gedämpfter. Wir plaudern über Jan und Pitt, Hering und Torte. Über alte Jobs, weshalb ich auch von der Psychiatrie spreche, wo ich nur zwei Jahre gearbeitet habe, was mich aber nachhaltig geprägt hat. Ich spreche über eine polytoxe Klientin, über ein-fache Süchte, und plötzlich schwimmen Tränen in ihren Augen. Wo kommen die denn auf einmal her? Ihr Vater sei Alkoholiker. Puh. Sie musste sich immer schon allein durchkämpfen. Ihre Eltern seien getrennt, schon seit vielen Jahren. Immerhin würde ihr Vater trotz Alkoholsucht arbeiten und Unterhalt zahlen. Etliche Entzüge hätten nichts gebracht. Ihre Mutter hingegen sei genervt vom Leben. Mit 19 sei sie viel zu früh schwanger geworden, weshalb sie ausschließlich auf sich achten würde. Unterhalt für ihre studierende Tochter? Keine Chance. Sie müsste zwar, weshalb auch das Bafög recht gering ausfalle, aber sie tut es nicht. Auf Nachfrage stöhne sie immer, kein Geld zu haben. Und dann kommt raus, dass sie die nächste Botox-Behandlung hinter sich habe. Ihr Äußeres sei ihr immens wichtig, weil wohl sonst nicht viel mit ihr los sei.
Und da sitze ich und sinniere über die völlig verschiedenen Entwürfe an zwei Abenden hintereinander. Der Eine war niemals weg von seiner Heimat, hat auch niemals den Drang verspürt. Die Welt ist für ihn in seinem kleinen Radius vollkommen in Ordnung. Die Andere will nie mehr auch nur ansatzweise in die Gegend ziehen, aus der sie stammt. Sie ist taff, extrovertiert und kämpferisch – während ihr die Tränen nur so über die Wangen kullern. Einmal mehr zeigt sich mir: Gerade die Lauten, vermeintlich Starken tragen so unendlich viel Verletzung mit sich herum. Weil sie aber so selbstbewusst auftreten, denken andere, die halten schon einiges aus und hauen auch noch drauf. So ist es auch mit ihrem Betreuer bei der Arbeit, wie sie mir anvertraut. Wir erarbeiten mögliche Strategien für ein Gespräch, das sie mit ihm führen könnte. Zum Schluss schnieft sie und schaut mich mit roten Augen an: „Ich kann mir sehr gut vorstellen, wie Du mit den Führungskräften arbeiten wirst. Die haben echt Glück.“ Puh…da bekomm ich fast Pipi in meine Augen.
Die Tapfere spricht wohl auch am nächsten Tag mit ihrem Betreuer – und ist völlig in Tränen aufgelöst. Er schickt sie heim, damit sie sich um sich kümmern könne und schreibt ihr anschließend noch mal eine Nachricht, in der er sich für das Gespräch bedankt. Sie würden das schon gut hinbekommen mit ihrem Projekt. Sie solle sich bitte nicht seine Sprüche so zu Herzen nehmen. Da sieht man, welche Wirkung ehrliche Worte haben können. Ich in verdammt stolz auf sie.
Was nicht ganz so gut läuft, ist meine Allergie, die mich massiv schlaucht. Ich weiß nicht, wie es Euch damit geht? Dieses Jahr soll wohl auch sehr krass sein, was den Pollenbefall betrifft. Wenn es weiter nichts ist, überstehe ich diese Phase auch noch. Heute Abend treffe ich dann drei alte Kollegen wieder und freue mich, mit ihnen zu lästern, zu schlemmen und zu lachen. Gestern hat mich ein anderer alter Kollege angeschrieben und nach meiner Einschätzung zu einer Person gefragt. Ich habe ihm einiges zurückgeschrieben, woraufhin er nur mit lachendem Smiley antwortete: „Wow. Wie machst Du das nur? Ich bin seit 13 Jahren im Unternehmen und habe nicht mal ein Hundertstel von Deinem Netzwerk.“ Schon spannend, oder? Mich interessieren Menschen und ihre Motive, Lebensgeschichten und Umstände einfach. Mir fällt es nicht einmal auf, was man mir alles von sich erzählt. So ist es allerdings häufig leichter, die Reaktionen der jeweiligen Menschen besser zu verstehen. Es ist eben meist eine Frage der Perspektive. So ein Perspektivwechsel schadet keinem von uns, denn die wenigsten Menschen machen irgendetwas aus purer Bosheit heraus. Sie haben ihre Gründe. Wenn ich diese besser verstehe, rege ich mich weniger auf. Da haben doch beide was davon, oder? In diesem Sinne: Happy weekend mit bunten Perspektiven bei diesem Schmuddelwetter.
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